Eine Jubiläumswallfahrt mit Teilnehmern aus Österreich
von Dr. Aleksander Pavkovic
Drei angenehme Dinge verbindet eine Pilgerfahrt im Idealfall, die in guter Erinnerung bleiben: eine Gegend besser kennenlernen, die Pilgergruppe besser kennenlernen bzw. Freundschaften vertiefen sowie geistliche Früchte besonders dann, wenn die Wallfahrt ein bestimmtes Thema hat oder sich ein ‚roter Faden‘ erkennen lässt. Die einwöchige Reise an den Niederrhein vom 1. bis 8. August dieses Jahres lässt sich unter diesem Gesichtspunkt eindeutig als ‚Erfolg‘ verbuchen. Anlass der von Gerlinde Gregori (stv. Vorsitzende des Deutschen Katholischen Blindenwerks) organisierten Fahrt war das Jubiläum: 50 Jahre DKBW.
Der rote Faden war somit bereits gegeben: Dankbarkeit für das in den letzten Jahrzehnten Erreichte, zugleich Hoffnung auf ein segensreiches Fortbestehen des Werkes. Daneben hatte die Wallfahrt mehrere marianische Akzente. Und wir wurden anhand anschaulicher Beispiele ermutigt, uns biblische Szenen und Orte möglichst plastisch vorzustellen und innerlich vor Augen zu führen. Schließlich sind die Erzählungen vom Weg Gottes mit den Menschen viel mehr als Geschichten aus alter Zeit; vielmehr sollen wir ihnen in unserem eigenen Leben Bedeutung verleihen.
Begegnung innerhalb der Wallfahrtsgruppe – das war dieses Jahr besonders gut möglich, da wir alle im gleichen Hotel (an der Rheinpromenade in Wesel) untergebracht waren. Die Stadt wurde uns gleich am Freitag, 2. August, also einen Tag nach unserer Anreise, bei einer Führung nähergebracht. Wesel (Geburtsort einer unserer Teilnehmerinnen) bot mit der Kirmes und Feuerwerk am Samstagabend (3. August) zugleich eine besondere Gelegenheit, das Quartier zu verlassen und das Flair des Ortes einzuatmen.
Von Wesel aus ging es mit den beiden Bussen, mit denen die Teilnehmenden aus allen Regionen Deutschlands (und auch aus Österreich) gekommen waren, zu den verschiedenen Ausflugsorten an den sechs Tagen mit inhaltlichem Programm. Zweimal, am Sonntag (4.) und Mittwoch (7. August) ging es nach Xanten. Dabei stand der Besuch am Sonntag ganz im Zeichen der römischen Vergangenheit des Ortes. Nach der Messe in der Pfarr- und ehemaligen Stiftskirche St. Viktor (ihrer Bedeutung wegen ‚Dom‘ genannt, obzwar sie nie Bischofskirche war) begaben wir uns in den Archäologischen Park Xanten (APX). Dieser Park liegt über der früheren Colonia Ulpia Traiana, einer der bedeutendsten römischen Siedlungen auf deutschem Boden. Bis heute wird dort gegraben, um die Bodendenkmäler zu erfassen und zu erforschen. Das „Römermuseum“ zeigt anschaulich Kultur und Lebensweise. Ausstellungen und Präsentation sind museumspädagogisch durchdacht und tragen in zunehmendem Maße auch den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen Rechnung; dies ist besonders das Verdienst von Museumspädagogin Marianne Hilke.
Am Mittwoch dann besichtigten wir die Stadt Xanten selbst (der Name übrigens leitet sich von „Ad Sanctos“ ab, also ‚bei den Heiligen‘, gemeint sind der Legionär Viktor und seine 330 Gefährten, die der Legende nach Anfang des 4. Jahrhunderts im Amphitheater hingerichtet worden sind). Die Stadt wurde nicht über der ehemaligen römischen Siedlung, sondern daneben erbaut. Mit dem „Nibelungenexpress“, einem gemütlichen, dieselbetriebenen Fahrzeug, bewegten wir uns durch die Straßen und erhielten eine launige und anschauliche Beschreibung der Stadt mit ihren vielen Wehrtürmen und anderen das Stadtbild prägenden Gebäuden vor allem aus dem Hoch- und Spätmittelalter. Neben seiner römischen Vergangenheit vermarktet Xanten also auch seine – jedenfalls der Sage nach – geschichtliche Bedeutung als Nibelungenstadt, als Siegfrieds Geburtsort (Nibelungenlied, 19,1-4).
Dass eine tatsächliche oder vermeintliche geschichtliche Bedeutung geschickt genutzt wird, ist vielen Orten, aber auch Familien eigen. In der „Schwanenstadt“ Kleve wurde uns dies am Montag, 5. August, vorgeführt. Die Grafen/Herzöge von Kleve führten ihren Ursprung auf den durch die Wagneroper „Lohengrin“ zu neuer Bekanntheit gekommenen Schwanenritter zurück, und so prägt der Schwan in Form zahlreicher Darstellungen das Stadtbild, nicht nur die Schwanenburg verweist namentlich darauf; der ‚Aufstieg‘ auf die Burg erwies sich im Übrigen trotz der angekündigten Stufen und zu überwindenden Höhenmeter als eine erstaunlich leichte Übung, aber das sagt vielleicht nur ein nahe der Alpen beheimateter, Bergwandern gewohnter Reisender so leichthin. Kleve wurde uns zudem als Stadt vieler schön angelegter Parks präsentiert, und bis heute, wenngleich mit abnehmender Tendenz, lässt die in und um Kleve gesprochene Mundart „Kleverländisch“ auf die Zugehörigkeit zum niederländischen Einflussbereich schließen.
Ein Besuch der Niederlande durfte angesichts der Grenznähe nicht fehlen. Viele attraktive Ziele hätten sich dort angeboten, die Organisatorin musste sich auf eines beschränken, die Wahl fiel thematisch passend auf die „Heilig Land Stichting – Park Orientalis“. Bei der Wallfahrt nach Kevelaer am Samstag (3. August) war eines der Motive in der Predigt gewesen, man solle sich biblische Orte und Ereignisse möglichst konkret vorstellen. Der nahe Nimwegen gelegene Park dient genau diesem Zweck, jedenfalls war dies die Absicht der Gründer (Eröffnung des Parks 1912). Ziel sollte es sein, durch den modellhaften Nachbau heilsgeschichtlich bedeutsamer Stätten Sitten und Gebräuche des Heiligen Landes den Vielen näherzubringen, die wohl nie eine Möglichkeit haben würden, selbst dorthin zu reisen. Inzwischen hat sich der Zweck der Stiftung etwas verschoben, interreligiöse Verständigung und gegenseitiges Kennenlernen insbesondere der drei abrahamitischen Glaubenstraditionen stehen im Vordergrund. Personal- und vor allem Geldmangel lassen jedoch, wie wir feststellen mussten, den Park inzwischen etwas verlassen erscheinen, übermäßig viele Besucher trafen wir auch nicht an (wohl ein Teufelskreis). Gut gespeist haben wir jedoch sowohl dort als auch am Sonntag in Xanten jeweils in einer „Römischen Herberge“, im Park Orientalis fügt sich das Angebot der zur Wahl stehenden Gerichte in das Konzept nahtlos ein und bringt dem Gast auch hierbei die Lebensart des östlichen Mittelmeerraums nahe.
Neben der bereits erwähnten Messfeier in Xanten sind drei bedeutsame geistliche Ereignisse zu nennen, die diese Niederrheinreise und -wallfahrt geprägt haben. Bereits am Freitag, 2. August, dem Tag, an dem wir die Stadt Wesel kennenlernten, eröffneten wir unsere Woche in der Wallfahrtskirche Mariä Himmelfahrt Ginderich. Wallfahrten dorthin sind seit 1190 belegt, die Rede ist gar vom ältesten Wallfahrtsort am Niederrhein, doch lebt die Wallfahrt nach langer Unterbrechung (Verbot der Wallfahrt 1640) erst in den letzten Jahrzehnten wieder auf. In den Kreis der Wallfahrtsorte der Region wurde Ginderich offiziell erst 2005 wieder aufgenommen.
Am folgenden Tag, dem 3. August (Samstag), stand dann der Höhepunkt der Reise an: die Dankwallfahrt nach Kevelaer. Allein schon die Tatsache, dass die beiden Programmpunkte um 10 und um 15 Uhr „Pilgeramt“ (Messfeier) und „Pilgerandacht“ hießen, zeigt die Größe und ungebrochene Bedeutung von Kevelaer als Wallfahrtsort. Beim Flanieren durch den Ort, etwa auf der Suche nach schönen Andenken, waren denn auch neben deutschen Dialekten Sprachen wie Niederländisch, Letzeburgisch, Italienisch und nicht zuletzt Polnisch häufig zu hören. Doch obwohl die Stadt gut besucht war, dürften wir am 3. August das Bild sichtbar mitgeprägt haben mit unserem DKBW-Button sowie mit vielen weißen Stöcken. Mitgeprägt haben wir auf jeden Fall das geistliche Geschehen an jenem Tag in Kevelaer: mit einer Lesung und zwei in unserem Kreis formulierten Fürbitten in Braille, sicherlich auch mit einigen entzündeten Kerzen sowie zahlreichen Dank- und Bittgebeten fürs DKBW und Menschen, denen wir herzlich verbunden sind. Wie in Wesel, Xanten und Kleve erhielten wir auch in Kevelaer eine nicht nur faktenreiche, sondern zudem freundlich und den Gästen zugewandt präsentierte Stadtführung
Auch den Schlusspunkt unserer Reise bildete, inklusive eines Elements der Aussendung durch Überreichen einer Muschel als Zeichen des Weges und der Weggemeinschaft, ein gemeinsamer Gottesdienst, nämlich am Nachmittag des 7. August in Marienbaum bei Xanten, nachdem wir zunächst eine Beschreibung der seit 1441 nachweisbaren Wallfahrt zum in einer treppenförmigen Eiche gefundenen Gnadenbild erhalten hatten. Die Messfeier in Marienbaum wird besonders in Erinnerung bleiben durch die musikalische Gestaltung. Zu den beiden Reiseteilnehmerinnen Bernadette Schmidt und Gabriele Firsching, die dem Vokalquartett „Pro puncto“ angehören, gesellten sich an jenem Tag noch die beiden männlichen Mitglieder Lothar Littmann und Matthias Gampe und verliehen der Festlichkeit des Anlasses durch den Gesang besonderen Ausdruck.
Die hervorzuhebende Besonderheit aller liturgischen Feiern während unserer Fahrt ist, dass Menschen mit Sehbehinderung und Blindheit tätig waren: Neben der erwähnten musikalischen Gestaltung waren dies in Kevelaer und auch Marienbaum sehbehinderte und blinde Lektorinnen und Lektoren; sie trugen Lesungen und Fürbitten vor. Gleich mehrere Priester mit Sehbehinderung oder Blindheit standen Messfeiern vor bzw. konzelebrierten: Stefan Müller, Matthias Peitz sowie (vom KBSW Norddeutschland, das bis Sonntag mit einer Gruppe teilnahm) Thomas Pabst.
Pfarrer Stefan Müller hob in seiner Predigt in Ginderich am 2. August, ausgehend von der Begegnung von Maria und Elisabet, die Parallelen zu Ereignissen in unserem Leben hervor: So wie Elisabet und Maria sich gegenseitig bestärken und wie vor allem Maria Zuspruch erfährt angesichts ihrer alles andere als geplanten Lebenssituation, so sei es auch die Aufgabe des DKBW und seiner Mitglieder, Zuspruch zu geben und vor allem die neu von einem Sehverlust Betroffenen zu ermutigen. Blindheit, so Stefan Müller, sei ja nicht das alles Entscheidende im Leben und mache das Leben auch nicht unerträglich, ähnlich wie Schwangerschaft zwar ein gewaltiger Einschnitt sei und doch nicht alles ändere, schon gar nicht als einziges Merkmal den Menschen ausmache.
Matthias Peitz ging in seiner Predigt bei der Abschlussmesse in Marienbaum auf das Symbol der Muschel ein, das uns mehrfach begegnet war; er brachte es, ausgehend von spätantiken Erläuterungen, in Verbindung mit Maria: So wie aus der Muschel die Perle hervorgehe, so gehe die wahre Perle, Christus, aus Maria hervor. Konkret, also in Tat und Wahrheit, durften wir und gerade in Kevelaer auch viele andere Pilgernde erleben, wie die Früchte der Arbeit des DKBW aussehen: nicht etwa einfach ‚Blindenbetreuung‘, sondern tätige Teilnahme unseres Personenkreises als liturgisch entsprechend ausgebildete Glieder der Kirche.
Ein herzlicher Dank gilt allen, die dazu beigetragen haben, dass diese Reise zu einer rundum gelungenen Pilgerfahrt werden konnte: Der Dank gilt besonders Gerlinde Gregori als Hauptorganisatorin, Regine Schramm und Ulrich Partl, die bei der Vorbereitung und Durchführung assistierten. Herzlich gedankt sei darüber hinaus den vielen sehenden Angehörigen und Befreundeten oder Bekannten, die uns bei Gruppenbildungen im Rahmen der Stadtführungen, bei der Orientierung und allem, was zum Unterwegssein gehört, unterstützten und mithalfen, den ‚Durchblick‘ zu behalten oder zu bekommen. Gestärkt und neu ausgesandt gehen wir so in die Zukunft – unsere je eigene und die Zukunft der katholischen Blinden- und Sehbehindertenvereinigungen. Matthias Peitz unterstrich es in der Abschlussmesse mit den Worten: „Ich übersetze das ‚ite, missa est’ heute mit ‚Jetzt seid Ihr dran!’“